Was ist schon normal?
Unter dieser Fragestellung beleuchtete Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), auf dem Neujahrsempfang der SPD in Emsdetten den Umgang mit Mitmenschen mit Behinderungen. Was gestern noch als nicht normal gewertet wurde, gehöre heute zur Normalität. Das ist immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Anschauungen. Diese bringen dann aber neue Problemstellungen hervor.
Dies verdeutlichte Matthias Löb an verschiedenen Sachverhalten:
Wieso ist in der letzten Zeit die Zahl der Kinder unter vier Jahren stark angestiegen, die als behindert oder als von Behinderung bedroht gelten? Ist es nicht „normal“, dass Kinder nicht gleich schnell laufen und sprechen lernen? Dass sie unterschiedlich geschickt oder tollpatschig sind? Dass das eine Kind eher laut, das andere eher leise ist? Welche Wirkung hat es auf Kind und Eltern, wenn es früh als von Behinderung bedroht gilt und wöchentlich zur Therapie muss. Matthias Löb appellierte, die Bandbreite dessen, was als normal gilt, nicht zu eng zu fassen.
Ein zweites Schlaglicht richtete er auf die vor einem Jahr geführte Debatte zur Pränataldiagnostik. Sollen Krankenkassen in Deutschland einen Bluttest bezahlen müssen, mit dem eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ermittelt werden kann, ob eine Schwangere ein Kind mit Trisomie 21, also mit Down-Syndrom, zur Welt bringt. Galten Menschen mit Down-Syndrom während der NS-Zeit als lebensunwert, spricht heute niemand mehr einem Betroffenen ab, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.
Der Beschluss zur Aufnahme des Tests in den Leistungskatalog bei begründeten Einzelfällen kann dennoch dazu führen, dass sich Frauen künftig erklären müssen, wenn sie ein Kind mit Down-Syndrom austragen. Interessant wird auch, wie lange es dauern wird, bis rabattierte Tarife bei Verpflichtung zur Pränataldiagnostik angeboten werden. Bei welchen Forschungsfortschritten werden Tests auf Veranlagungen für andere mögliche Krankheiten, wie Krebs, Alkoholismus oder psychische Erkrankungen entwickelt? Die Frage nach normal oder behindert führt dann in zutiefst ethische Debatten.
Matthias Löb rief dazu auf, mit dem Attribut „behindert“ sparsam umzugehen. Es sollte nur dort eingesetzt werden, wo es als Unterscheidungsmerkmal hilfreich oder notwendig ist. So ist die Bezeichnung für eine Institution wie den LWL erforderlich, da daran Sozialleistungen geknüpft sind, die betroffenen Menschen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollen.
In der Gesellschaft gilt aber auch vielmals, dass man nicht behindert ist, sondern behindert gemacht wird. Die Einschränkung rührt nicht allein aus einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, sondern aus Wechselwirkungen mit der Umwelt. Wenn das Bedienfeld eines Geldautomaten tief genug liegt, kann auch ein kleinwüchsiger Mensch oder ein Mensch im Rollstuhl ohne fremde Hilfe Geld abheben.
In vier Lebensbereichen ist der LWL in der Behindertenhilfe aktiv. In Kindergärten mit ein oder mehreren Kindern mit Förderbedarf in einer Kita-Gruppe wird das Personal für die ganze Gruppe aufgestockt, um auf individuellen Förderbedarf eingehen zu können.
Seit den 1970er-Jahren geht der Trend zu kleineren Wohnformen für Menschen mit Behinderungen. Und für den LWL ist es normal, dass ein Wohnheim nicht mehr als 24 Plätze haben sollte und in einem Wohngebiet oder einer Innenstadt liegt. Damit soll ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung erreicht werden.
Für Menschen mit Behinderungen werden spezielle Werkstätten betrieben, wenn diese keine Chance haben, Fuß auf dem normalen Arbeitsmarkt zu fassen. Dies folgt der Erkenntnis, dass Arbeit ein wesentlicher Faktor des gesellschaftlichen Lebens ist und den betroffenen Menschen Bestätigung bietet.
Im Bereich des Alltags sind wir hingegen alle gefragt. Hier geht es um Begegnung, Kontakt miteinander aufzunehmen, sich kennenlernen und damit zu einer Verständigung zu kommen. Matthias Löb ermunterte, das Thema Inklusion mit einer positiven, ja vielleicht sogar unbeschwerten Grundeinstellung anzugehen und erinnert an Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker „Es ist normal, verschieden zu sein!“
In ihrer Begrüßung wies die Vorsitzende des Ortsvereins, Marita Haude auf Ergebnisse einer Umfrage der Meinungsforscher des Allensbach-Instituts hin, nach der die „Qualität der Regierung“ und das politische System von immer weniger Menschen als eine Stärke unseres Landes angesehen werden.
Sie stellte heraus, dass unser Gemeinwesen davon lebt, dass sich Menschen bereitfinden, in der Kommunalpolitik ehrenamtlich das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu suchen und vor Ort für ein gutes Miteinander einzutreten.
Die Vielzahl von Ehrenamtlichen, die in Emsdetten in der Feuerwehr, in einer Kirchengemeinde, als Vorlesepaten in der offenen Ganztagsschule, als Helfer in der Altenhilfe und vielen weiteren Initiativen wirken, bereichern nicht nur das Leben ihrer Mitmenschen, sondern nehmen dem Staat und der Gemeinde viele unverzichtbare Aufgaben ab. Rat und Verwaltung wissen durch besondere Anlässe und Auszeichnungen diese ehrenamtliche Engagement zu würdigen.
Aufgabe von Politik, Polizei und Justiz ist es, gerade diejenigen zu schützen, die sich in öffentlichen Ämtern für das Gemeinwesen engagieren. Aber es ist auch unsere Aufgabe als Bürgerinnen und Bürger, gegen ein Klima des Hasses zu kämpfen, in dem demokratisches Engagement nicht gedeihen kann.
Bürgermeister Georg Moenikes ergänzte in seinem Grußwort, dass für eine Stadt wie Emsdetten vor allem wichtig sei, dass der Wille zur Gestaltung und Weiterentwicklung erkennbar wird. Dies sei bei allen inhaltlichen Unterschieden zwischen den Parteien bisher immer der Fall gewesen. Emsdetten hat sich in diesem Jahr viel vorgenommen und ist daher auf diesen Willen besonders angewiesen.
Die Kassenbonpflicht war Inhalt des Grußwortes der Bundestagsabgeordneten Ingrid Arndt-Brauer. Als der Beschluss vor nahezu vier Jahren im Bundestag gefasst wurde, habe sie erfahren, dass es Kassensysteme am Markt gegeben habe, bei denen beim Kassenabschluss nicht nur die Summe der tatsächlich eingebongten Beträge aufgeführt, sondern zusätzlich die Frage gestellt wurde: „Wie hoch sollen die Einnahmen offiziell sein?“ Je nach gewählter Zahl wurden dann die erfassten Beträge angepasst.
Der Schaden für die Finanzierung unseres Gemeinwesens wurde daher nicht über einzelne Großbeträge angerichtet, sondern die Masse der kleinen Transaktionen führte zu erheblichen Steuerhinterziehungen.
Den musikalischen Rahmen des Neujahrsempfangs gestaltete das Trio Treasury, dass seine musikalische Schatzkiste öffnete. Neben politischen Klassikern wie „Bella Ciao“ oder „Aufstehen“ boten sie ein abwechslungsreiches Programm mit Evergreens der Countrymusk und von deutschen Liedermachern.
Einer guten Tradition folgend wurde die Veranstaltung mit Kabarett beschlossen. HG. Butzko nahm die Weltpolitik und die Befindlichkeiten in Deutschlands bissig aufs Korn. Er entlarvte die einfachen Denkmuster des Rechtspopulismus ebenso wie den täglichen Alltagsrassismus. Und bei einer alternativen Geschichte, bei der das Schießpulver von China nicht nach Europa gelangt wäre, sondern nach Afrika und dann der Kolonialismus in umgekehrter Richtung stattgefunden hätte, blieb sicher so mancher Lacher im Halse stecken.